31

Lisa erwachte am Sonntagmorgen und wünschte sich umgehend, sie wäre nicht aufgewacht. Etwas in der Stille vor ihrem Schlafzimmerfenster sagte ihr, dass es noch sehr, sehr früh war. Und sie wollte nicht, dass es noch sehr, sehr früh war. Es sollte möglichst spät sein. Möglichst früher Nachmittag. Idealerweise der Nachmittag des nächsten Tages.

Sie lag ganz still und strengte sich an, die Geräusche von rufenden Müttern, streitenden Kindern und lauten Spielen zu hören, die ihr andeuteten, dass die Welt da draußen in Bewegung war. Aber außer ein paar Vögeln in ihrem Garten, die zirpten und zwitscherten, als hätten sie im Lotto gewonnen, hörte sie nichts.

Als sie es nicht länger aushielt, nicht auf die Uhr zu gucken, drehte sie sich in ihrem zerwühlten Bett um und sah auf den Wecker. Halb acht, verdammt noch mal. Halb acht morgens!

Das verlängerte Wochenende verging im Zeitlupentempo. Und dadurch, dass sie ganz allein war, war es noch viel schlimmer.

Irgendwie hatte sie nicht damit gerechnet, dass sie es allein verbringen müsste. Während der Woche hatte sie im Hinterkopf gehabt, dass Ashling sie in den Pub oder zu einer Party oder zu einem Treffen mit diesen beiden Verrückten, Ted und Joy, einladen würde. Oder irgendwas. Schließlich lud Ashling sie andauernd zu etwas ein. Aber als sie am Freitag Abend nach der Champagner-Orgie schwindlig und beschwipst die Redaktion verließ, merkte sie erst, als sie nach Hause kam und wieder nüchtern geworden war, dass Ashling keine Einladung ausgesprochen hatte. Frechheit, eigentlich! Erst lädt sie Lisa ständig zu Sachen ein, zu denen sie gar nicht gehen will, und dann, wenn sie eine Einladung gut gebrauchen könnte, versäumte Ashling es, eine auszusprechen!

Missgelaunt zündete Lisa sich eine Zigarette an und verstieß gegen ihre Regel, nicht im Bett zu rauchen. Was war nur anders in Dublin? In London hatte sie nie Zeit übrig. Da liefen immer jede Menge Termine ein, die darauf warteten, dass sie sie absagte. Und wenn sich in seltenen Fällen wirklich einmal unvorhergesehene Freizeit ergab, konnte sie sie jederzeit mit Arbeit füllen.

Aber hier war das anders. Es war ihr nicht möglich gewesen, irgendwelche Termine aufs Wochenende zu legen. Die Journalisten, die Friseure, die DJs, die Designer - sie waren alle faule Säcke und verreisten über die freien Tage, und die, die da blieben, wollten eine ruhige Kugel schieben und hatten keine Lust auf Termine.

Das Schlimmste war, dass sie am Montag nicht in die Redaktion gehen konnte, weil das Gebäude geschlossen sein würde. Als sie das am Freitag morgen hörte, war sie unverzüglich in Jacks Büro marschiert und hatte ein richtiges Theater veranstaltet. »Kann der Hausmeister - wie heißt er noch? Bill? - nicht herkommen, mir aufschließen und wieder nach Hause gehen?«

»An einem Feiertag?« Jack schien aufrichtig belustigt zu sein. »Bill? Kein Gedanke dran!«

Fauler Hund, hatte Lisa in ohnmächtiger Wut gedacht. In London waren sie immer gekommen, um ihr aufzuschließen.

»Warum machen Sie sich nicht ein paar schöne Tage?«, hatte Jack ihr geraten. »Sie haben in der kurzen Zeit so viel erreicht. Sie haben eine Pause verdient.«

Aber sie wollte keine Pause, sie war zu aufgedreht. Drei komplette Tage, wie sollte sie die ausfüllen?

Und warum schlug er nicht vor, dass sie zusammen was unternehmen könnten, fragte sie sich frustriert. Sie wusste, dass er an ihr interessiert war, sie hatte den Ausdruck mehr als einmal in seinem Gesicht gesehen.

»Gehen Sie aus, genehmigen Sie sich ein paar Drinks«, drängte er sie.

Mit wem?

Sie erwog, über das Wochenende nach London zu fahren, war aber zu beschämt. Wo würde sie wohnen? Ihre Wohnung war untervermietet, und ihre Freundschaften hatte sie vernachlässigt die meisten davon waren ihrem hektischen Karrierestreben der letzten zwei Jahre zum Opfer gefallen, und die einzige Freundin, für die sie überhaupt von ihrer kostbaren Zeit etwas erübrigte, war Fifi. Aber seit sie nach Irland verbannt worden war, fand sie es zu peinlich, sie anzurufen. Wenn sie nach London fahren wollte, müsste sie in einem Hotel übernachten wie - sie schüttelte sich - wie irgendein... Tourist.

Aber am Freitagabend, als ihr bewusst wurde, dass sie mit der vielen Zeit, die sie über das Wochenende totzuschlagen hätte, ein veritables Blutbad anrichten würde, fand sie die Vorstellung, als Tourist nach London zu fahren, gar nicht so übel. Und dann musste sie feststellen, dass sämtliche Flüge von Dublin nach London ausgebucht waren. Alle versuchten verzweifelt, diesem kleinen miesen Land zu entkommen, und wer konnte es ihnen verübeln?

Der Samstag war dann gar nicht so schlimm gewesen, wenn sie ehrlich war. Sie hatte sich die Haare schneiden, die Wimpern färben, die Nägel mani- und pediküren lassen und sich eine Gesichtsmassage gegönnt. Alles gratis. Dann machte sie die Einkäufe für die kommende Woche. An den folgenden sieben Tagen würde sie nur Dinge essen, die mit ›A‹ anfingen: Apfel, Avocado, Artischocken, Anschovis, Absinth.

Und weil sie sich ein bisschen bedürftig fühlte, dehnte sie die Regeln und ließ ein Plunderstück mit Aprikosenfüllung in den Korb wandern. Was ihr dann enorm guttat, denn den Samstagabend allein verbringen zu müssen war doch sehr deprimierend und unangenehm gewesen.

Und jetzt war es Sonntagmorgen - vor ihr lagen zwei ganze freie Tage.

Schlaf wieder ein, bettelte sie. Schlaf wieder ein und schlag zwei Stunden tot.

Aber sie konnte nicht mehr einschlafen. Was allerdings auch nicht verwunderlich war, denn schließlich hatte sie am Abend zuvor um zehn Uhr schon in der Falle gelegen.

Sie stand auf, duschte und war, obwohl sie unglaublich viel Zeit unter der Dusche verbrachte und sich fast die Haut abschrubbte, um Viertel nach neun fertig angezogen. Fertig, wofür? Sie war ausgeschlafen und voller Energie und hatte nichts zu tun. Was tun die Menschen bloß, fragte sie sich.

Sie gingen ins Fitness-Studio, nahm sie an und verdrehte die Augen. (Sie wünschte sich, jemand würde sie dabei sehen, wie sie die Augen verdrehte.) Lisa war stolz darauf, dass sie nie ins Fitness-Studio ging, besonders in Dublin nicht. Es war extrem passé, die ganzen Übungen auf dem Stairmaster und dem Rudersimulator. Die irische Fitness-Industrie hinkte so hoffnungslos hinterher, dass Jogging hier immer noch als eine innovative Idee galt! Nein, Lisa interessierte sich eher für die weniger anstrengenden und mehr im Trend liegenden Formen der Körperskulptur. Pilates, Power-Yoga, isometrische Übungen. Am besten in einer Einzelstunde mit einem Body-Doktor, der Elizabeth Hurley und Jemima Khan zu seinen Klientinnen zählte.

Das Problem mit Pilâtes lag darin, dass es den Stoffwechsel nicht sonderlich ankurbelte und deshalb am ehesten Ergebnisse zeitigte, wenn es mit einer strengen Hungerdiät kombiniert wurde. Hier kam die ›A‹-Diät zum Zuge. Erstaunlich, wie wenige Nahrungsmittel mit A begannen. Wäre es ›B‹, sähe es ganz anders aus: Bacon, Bounty, Bacardi, Brie, Brot, Butterkuchen ... Wenn sie wirklich rasant abnehmen wollte, müsste sie eine Woche lang eine ›Y‹-Diät machen. Yamswurzel, und damit hatte es sich auch schon. Und Yoghurt, wenn man das gestatten wollte. Oh, sie hatte vergessen, dass es auch noch Yorkies gab. Vielleicht wäre ›Z‹ noch sicherer.

Nachdem sie ihr Frühstück, bestehend aus einem Apfel, einer Aprikose und einem Glas Aqua Libra, beendet hatte, war es immerhin schon zehn Uhr. Aber als es so aussah, als würde sie jeden Moment eine Konversation mit den Wänden anfangen, traf sie eine Entscheidung. Sie würde einkaufen gehen. Doch stand ihr der Sinn nicht nach Freestyle-Konsum zu Therapiezwecken, nein, sie hatte einen Plan. In gewisser Weise, wenigstens ... Sie plante, eine Wand in ihrem Schlafzimmer bis unter die Decke mit einer Holzlamellen-Jalousie zu verkleiden, die das Cottage-Flair abmildern und eine Kubus-artige, Urbane Atmosphäre schaffen sollte. Dann würde sie in der Zeitschrift einen Artikel darüber veröffentlichen und sich einen Teil der Kosten erstatten lassen.

Doch als sie in die Grafton Street kam, musste sie schockiert feststellen, dass keins der Geschäfte geöffnet war und außer ihr nur Touristen durch die Straßen gingen und verloren um sich blickten.

Dieses bescheuerte Land, dachte sie zum hundertsten Mal. Wo waren die Menschen nur? Wahrscheinlich in der Kirche, dachte sie verächtlich.

Um eins, sagte der Mann in dem Zeitungsgeschäft. Die Geschäfte machten um ein Uhr auf. Also ging sie in ein Café, trank Amaretto-latte und las, die Beine übereinander geschlagen, die Zeitung. Nur das hektische Wippen ihres Fußes, mit dem sie die Zeit weiterschubsen wollte, deutete auf ihre innere Hysterie hin.

Was sollten diese außergewöhnlichen meteorologischen Zustände bedeuten, fragte sie sich. Es herrschte eine totale Abwesenheit von sintflutartigen Regengüssen oder orkanartigen Stürmen - zweifellos seit Menschengedenken das erste Mal an einem verlängerten Wochenende, oder? Stattdessen schien die Sonne tapfer von einem ziemlich blauen Himmel, und irgendwie erinnerte sie das an andere Zeiten, was sie traurig machte, aber das wollte sie auf keinen Fall. O nein!

Hastig erinnerte sie sich an ihre Theorie - sie war nicht traurig; ihr Leben war im Moment einfach unter den wünschenswerten Glanz-und-Gloria-Pegel gefallen. Es gab kein negatives Gefühl, das sich nicht mit ein wenig Glanz in Ordnung bringen ließ, und es war wichtig, dass sie diesen Grundsatz in den gegenwärtigen turbulenten Zeiten nicht aus den Augen verlor. Sie musste allerdings zugeben, dass er ihr letzten Sonntag, als sie den Tag einsam und verzweifelt verbracht hatte, nicht eingefallen war.

Endlich war es so weit, dass die Jalousien-Läden die Türen öffneten, doch nur kurze Zeit später hatte Lisas das Gefühl, dass sie ihre Unternehmung ebenso gut auch hätte bleiben lassen können. Keins der jämmerlichen Innenausstattungsgeschäfte konnte ihr in der gewünschten Größe etwas zeigen. Man empfahl ihr, ein Kaufhaus aufzusuchen. Und obwohl es normalerweise nicht Lisas Stil war, in Kaufhäusern einzukaufen, kam sie zu dem Schluss, dass ihr kaum eine andere Wahl blieb.

In der vierten Etage - Deko-Stoffe und Vorhänge - bekam sie einen geschäftigen kleinen Mann zu fassen, der ein Maßband um den Hals gelegt hatte.

»Ich brauche nach Maß gefertigte Jalousien.«

»Da sind Sie bei mir richtig«, stellte er selbstbewusst fest.

Aber als sie ihm die Maße sagte und auf die Holzlamellen zeigte, die sie haben wollte, wich ihm die Farbe aus dem Gesicht.

»Zwei Meter siebzig hoch?«, sagte er mit piepsiger Stimme. »Und vier Meter zwanzig breit?«

»Genau«, erwiderte Lisa.

»Aber gnädige Frau«, protestierte er, »das kostet Sie ein Vermögen!«

»Das macht nichts«, sagte Lisa.

»Aber haben Sie eine Vorstellung, was das kosten würde?«

»Nein - sagen Sie es mir!«

Auf braunem Einwickelpapier stellte er eine Rechnung auf und schüttelte dann besorgt den Kopf.

»Wie viel?«

Aber er wollte es ihr nicht sagen. Was immer der Preis, er war zu hoch, hatte er beschlossen.

»Warten Sie, ich überlege gerade. Vielleicht sollten Sie ein billigeres Material nehmen«, sagte er und ließ seinen geübten Blick über die Ware gleiten. »Lassen Sie das mit Holz. Wir könnten Plastik nehmen, wie wär das? Oder Segeltuch?«

»Nein, danke, ich will auf jeden Fall Holz.«

»Es gibt auch fertige Jalousien.« Er nahm einen neuen Anlauf. »Ich weiß, dann hätten sie nicht genau die richtige Größe, und das Material wäre auch nicht so schön, aber es wäre um vieles billiger. Kommen Sie, ich kann Ihnen was Schönes zeigen.«

Er packte sie bei der Hand, zog sie hinter sich her und zeigte ihr eine Auswahl von scheußlichen vertikalen Büro-Jalousien.

Sie entzog ihm die Hand. »Diese will ich nicht! Ich möchte welche aus Holz, und ich versichere Ihnen, dass ich sie bezahlen kann.«

»Verzeihen Sie bitte«, sagte der Mann unterwürfig. »Ich wollte nur vermeiden, dass Sie sich in diese Unkosten stürzen, aber wenn Sie sicher sind ...«

Lisa seufzte. Was war das für ein Land! »Ich habe gespart«, beruhigte sie ihn. »Es ist in Ordnung.«

»Sie haben gespart?« Er wurde sichtlich munterer. »Ja, dann ist das was anderes.«

Als sie ihm die genauen Angaben machte, verflog ihre Gereiztheit. Und als er sich dann ganz weit vorbeugte und ihr anvertraute, dass er die Preise in dem Kaufhaus viel zu hoch fand und er und seine Frau auf den Schlussverkauf warteten, war sie fast gerührt von seiner Anteilnahme.

Ich drehe durch, dachte sie plötzlich. Das ist jetzt amtlich, ich schnappe über. Mitleid zu haben mit einem Verkäufer, der mir nicht das verkauft, was ich haben will!

Es war noch nicht sechs, als sie nach Hause kam. Da ihr absolut nicht einfiel, was sie tun könnte, rief sie ihre Mum an und gab ihr ihre neue Telefonnummer. Obwohl sie das genausogut bleiben lassen konnte, denn ihre Mutter rief sowieso nie an. Der Gedanke an die Telefonrechnung hielt sie davon ab. Selbst bei einem Unglücksfall - zum Beispiel wenn ihr Vater stürbe würde ihre Mum wahrscheinlich warten, bis Lisa sie anrief.

Nachdem sie sich gegenseitig nach ihrer Gesundheit erkundigt hatten, wartete Pauline mit guten Nachrichten für Lisa auf. »Dein Vater sagt, eure komische Hochzeit damals ist wahrscheinlieh nicht gültig, so dass es gar nicht zu einer Scheidung kommen muss.«

Das Wort »Scheidung« traf Lisa mit aller Wucht. Es war ein so schweres, endgültiges Wort. Aber sie fasste sich schnell wieder und sagte schnippisch zu ihrer Mum: »Da irrst du dich.«

Pauline schluckte bei dem erwarteten Tadel. Natürlich irrte sie sich. Wenn es um Lisa ging, irrte sie sich dauernd.

»Oliver hat es eintragen lassen, als wir zurückgekommen sind.«

»Naja, dann ist es was anderes.«

»Das ist in der Tat was anderes.«

In dem darauffolgenden Schweigen musste Lisa an den Freitagmorgen denken, als sie und Oliver im Bett lagen und Oliver plötzlich die Idee hatte, dass sie, ein junges, modernes Londoner Paar, übers Wochenende nach Las Vegas fliegen und dort heiraten könnten.

»Wir kriegen nie einen Flug«, hatte Oliver lachend gesagt. Er war total begeistert von der Idee.

»Klar kriegen wir einen Flug!« Lisa hatte das Selbstvertrauen eines Menschen, der immer das bekommt, was er will. Und natürlich kriegten sie einen Flug - damals, als die Welt noch nach ihren Wünschen funktionierte. An dem gleichen Abend flogen sie nach Las Vegas, berauscht von der Aufregung und der gewagten Tat. Dort angekommen und vom Jetlag wie auch von dem irren blauen Wüstenhimmel benommen, entdeckten sie, dass Heiraten beängstigend leicht war.

»Meinst du, wir sollten es tun?« Lisa kicherte und war drauf und dran, die Nerven zu verlieren.

»Deswegen sind wir hier.«

»Ich weiß, aber... ist es nicht ein bisschen extrem?«

Olivers gereizter Blick traf sich mit ihrem. Lisa kannte diesen Blick. Mit Oliver fing man nichts an, wenn man es nicht durchziehen wollte.

»Also, dann los!« Vor Erregung und Anspannung lachte sie schrill.

In der Vierundzwanzig-Stunden-Chapel-of-Love gaben sie sich das Treuegelöbnis vor zwei Zeugen, einem Elvis-PresleyVerschnitt und einem Starbucks-Mitarbeiter. Die Braut trug Schwarz.

»Sie dürfen die Braut küssen.«

»Wir sind verheiratet!« Lisa war außer sich vor Aufregung, als sie beiseite traten, um dem nächsten Paar Platz zu machen. »Das ist völlig unwirklich.«

»Ich liebe dich, Babes«, sagte Oliver.

»Ich liebe dich auch.«

Und das stimmte auch. Aber vor allem brannte sie darauf, nach London zu kommen und die Kollegen neidisch zu machen mit Berichten über den kitschigen Prunk ihrer Eheschließung. Eine Trauung am Strand von Santa Lucia konnte damit nicht mithalten - das hier war unübertroffen! Sie konnte es kaum abwarten, dass es Montag wurde und sie zur Arbeit gehen konnte, wo jemand sie fragen würde: »Na, was Schönes gemacht am Wochenende?«, damit sie lässig antworten konnte: »Ach, wir sind nach Las Vegas geflogen und haben geheiratet.«

»Dann musst du dir einen Anwalt nehmen.« Paulmes Stimme holte sie in die Gegenwart zurück. »Damit du das bekommst, was dir zusteht.«

»Ja, sicher«, sagte Lisa gereizt.

Wenn sie ehrlich war, hatte sie keine Ahnung, wie eine Scheidung vor sich ging. Obwohl sie normalerweise so pragmatisch und dynamisch war, hatte sie das offizielle Ende ihrer Ehe gar nicht richtig zur Kenntnis genommen. Vielleicht hatte ihre Mum Recht und sie sollte sich tatsächlich einen Anwalt nehmen.

Aber nachdem Lisa aufgelegt hatte, konnte sie nicht aufhören, an Oliver zu denken. Ungebetene Gefühle kamen an die Oberfläche wie Blasen aus dem Nichts, und in einem verrückten Moment der Schwäche war sie schon im Begriff, zum Telefonhörer zu greifen und ihn anzurufen. Der Gedanke, seine Stimme zu hören, sich mit ihm auszusöhnen, ließ Hoffnung in ihr aufsteigen.

Sie hatte schon häufiger Anwandlungen gehabt, ihn anzurufen, aber diesmal war es schlimmer, und sie konnte sich nur davon abhalten, indem sie sich daran erinnerte, dass er diejenige war, der sie verlassen hatte. Auch wenn er gesagt hatte, sie habe ihm keine andere Wahl gelassen.

Sie ging vom Telefon weg, was sie regelrechte körperliche Anstrengung kostete. Ihr Herz klopfte bei dem Gedanken an die verpassten Chancen. Nur wenige Augenblicke zuvor war ihr eine Versöhnung möglich erschienen, und das Tief, das darauf folgte, nahm ihr den Atem.

Sie zündete sich eine Zigarette an - die Flamme zitterte - und sagte sich, sie müsse sich am Riemen reißen und ihn vergessen. Das Alte war vergangen, etwas Neues konnte beginnen. Sie würde an Jack denken. Aber der vögelte wahrscheinlich pausenlos mit der katzenhaften Mai.

Himmel, dachte sie schmachtend, wie gerne würde sie vögeln ...

Mit Jack. Oder Oliver. Mit einem von ihnen. Oder mit beiden ... In ihrem Kopf entstand das Bild von Olivers hartem Körper, der aussah, als wäre er aus Ebenholz geschnitzt, und bei der Erinnerung stöhnte sie laut auf.

Sie sah auf die Uhr. Zum zigsten Mal. Halb acht. Warum konnte der Tag sich nicht beeilen und zu Ende gehen?

Da klingelte es an der Tür und ihr Herz fing mächtig an zu klopfen. Vielleicht war es Jack, der ihr einen seiner unangekündigten Hausbesuche abstattete! Sie blieb vor dem Spiegel stehen und prüfte, ob sie sich so zeigen konnte; sie rieb sich die Mascara unter dem Auge weg, strich sich über die Haare und eilte zur Tür.

Auf der Stufe vor ihrer Tür stand ein kleiner Junge in einem T-Shirt von Manchester United und mit einer komplizierten Frisur, bei der der Schädel rasiert war und vorn ein langer Pony in die Augen fiel. All die kleinen Jungen in der Straße hatten die gleiche Frisur.

»Wie geht‘s dir, Lisa?«, fragte er mit erstaunlich lauter Stimme und lehnte sich selbstbewusst an den Türrahmen. »Was machst du so? Kommst du raus und spielst mit uns?«

»Spielen?«

»Wir brauchen einen Schiedsrichter.«

Hinter ihm traten andere Kinder ins Blickfeld. »Ja, Lisa«, drängten sie. »Komm doch raus!«

Sie wusste, es war absurd, aber sie fühlte sich geschmeichelt. Es tat gut, gebraucht zu werden. Sie verdrängte Erinnerungen an andere lange Wochenenden, an denen sie mit dem Helikopter nach Champneys oder erster Klasse nach Nizza geflogen war oder ein paar Tage in einem Fünf-Sterne-Hotel in Cornwall verbracht hatte, und holte sich eine Jacke. Den Rest des Sonntags saß sie auf den Stufen vor ihrem Haus und zählte die Punkte, während die Kinder auf der Straße auf ziemlich aggressive Art und Weise Tennis spielten.

Jack Devine hatte seine Mutter am Sonntagmorgen angerufen. »Ich komme heute Nachmittag vorbei«, sagte er. »Und ich möchte gern jemanden mitbringen. Geht das?«

Seine Mutter verschluckte sich fast vor Aufregung. »Jemand weibliches?«

»Jemand weibliches.«

Lulu Devine gab sich größte Mühe, die Frage nicht zu stellen, aber sie schaffte es nicht. »Kommst du mit Dee?«

»Nein, Ma«, seufzte Jack. »Nicht mit Dee.«

»Naja. Hast du sie mal wieder gesehen?« Einerseits vermisste Lulu die Frau, die ihren geliebten Sohn sitzengelassen hatte, und andererseits war sie ihr aus Gründen der Loyalität zu ihrem Sohn verhasst.

»Doch, ja«, sagte Jack. »Ich habe sie auf dem Parkplatz in der Drury Street gesehen. Sie lässt dich grüßen.«

»Wie geht es ihr?«

»Sie heiratet demnächst.«

Die ewige Hoffnung keimte auf. »Doch nicht etwa dich?«, hauchte Lulu.

»Nein.«

»Wie gemein.«

»Aber nein«, beruhigte Jack sie. Als er die Neuigkeit hörte, war er zwar nicht hellauf begeistert, aber andererseits auch nicht zutiefst betroffen gewesen. »Sie hatte Recht, dass sie mich nicht genommen hat. Wir hatten uns auseinandergelebt. Sie hat es eher gemerkt als ich.«

»Und das Mädchen, das du heute mitbringst?«

»Sie heißt Mai. Sie ist sehr nett, nur ein bisschen nervös.«

»Wir sind bestimmt nett zu ihr.«

In einem unauffälligen taillenlangen Jackett im Fünfziger-Jahre-Stil, das sie, eigentlich mehr aus Witz, in einem Oxfam-Geschäft gekauft hatte, und Sandalen mit nur siebeneinhalb Zentimeter hohen Absätzen saß Mai auf der Fahrt nach Raheny neben Jack.

»Meinst du, es macht ihnen was aus, dass ich halb Vietnamesin bin? Sind sie rassistisch?«

Jack schüttelte entsetzt den Kopf. »Kein bisschen.« Er legte seine Finger auf ihre Hand. »Mai, beruhige dich - es sind anständige Menschen.«

»Und sie sind beide Lehrer, hast du gesagt?«

»Sie sind pensioniert, aber sie waren Lehrer.«

Lulu und Geoffrey zogen das volle Programm ab - sie hießen Mai mit einem doppelhändigen Handschlag willkommen, räumten die Zeitungen vom Sofa, damit Mai sich setzen konnte, und zeigten ihr Fotos von Jack, als er ein kleiner Junge war.

»Er war so süß«, seufzte Lulu dahinschmelzend und zeigte Mai ein Bild von Jack als hübschem Vierjährigen an seinem ersten Schultag.

»Und sehen Sie mal hier!« Ein Farbfoto von einem staksigen Jack als Teenager, neben einem kleinen Tisch.

»Den Tisch habe ich gemacht«, erklärte Jack stolz.

»Er hat sehr geschickte Hände«, sagte Lulu vertraulich.

Ich weiß, dachte Mai und fragte sich eine schreckerfüllte Sekunde lang, ob sie es laut gesagt hatte.

Mais Nervosität zerstob angesichts der ihr entgegengebrachten Herzlichkeit, und alles ging gut, bis Mai ein Foto auf dem Kaminsims entdeckte. Es zeigte einen jüngeren, dünneren, weniger sorgenzerfurchten Jack, den Arm um ein großes, braunhaariges Mädchen gelegt, das aufrecht da stand und selbstbewusst lächelte. Lulu wurde es im gleichen Moment gewahr und fing Mais entsetzten Blick auf. Warum hatte sie es nicht versteckt?

»Wer ist deine Freundin da?«, fragte Mai Jack und empfand fast ein Vergnügen dabei, sich selbst zu quälen. Sie wusste über Jack und Dee Bescheid - dass sie seit dem College zusammengelebt hatten und dass Dee, als sie nach neunjähriger Beziehung beschlossen zu heiraten, einen Rückzieher gemacht hatte. Mai war fasziniert, ein Bild von ihr zu sehen.

Die Situation wurde dadurch gerettet, dass Jacks ältere Schwester Karen mit ihrem Mann und ihren drei Kindern eintraf. Und kaum war die lautstarke Begrüßung überstanden, da stand auch schon Jenny, Jacks jüngere Schwester, mit Mann und Kindern vor der Tür.

»Komm, dann wollen wir mal fahren«, sagte Jack, als er Mais hilflose Blicke bemerkte.

Lulu und Geoffrey sahen dem Auto nach.

»Ein reizendes Mädchen«, sagte Lulu.

»Mit einem höchst ungewöhnlichen Beruf«, fügte Geoffrey hinzu.

»Mobiltelefone zu verkaufen?«

Geoffrey sah sie mit einem überraschten Ausdruck an. »Mobiltelefone? Mir hat sie etwas anderes erzählt!«

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